Martin Schneider, „looking over my shoulder“, Relief.
24. Januar bis 28. Februar 2014
Dr. Matthias Schatz (Journalist/Kunsthistoriker)
Es war der Tsunami, der 2011 weite Küstenstriche Japans verwüstete, der Martin Schneider inspirierte, die Reihe von Floßdarstellungen zu schaffen, die wir hier vor uns sehen. Das erste Motiv zeigt einen Mann, der weit draußen auf dem Pazifik treibt. Sein Floß hatte er sich notdürftig aus dem Dach seines überschwemmten Hauses gebastelt. Dargestellt ist der Moment der Rettung, denn ein Boot mit Bergungskräften steuert auf ihn zu. Später entstandene Werke zeigen Motive, die bei Überschwemmungen in China, Pakistan und anderen Ländern entstanden und von Medien verbreitet worden sind. Schneider fischte gewissermaßen nach ihnen, während er im Internet surft. Dazu hatte er die Suchbegriffe „flood, people“ und „raft“, also Flut, Menschen und Floß eingegeben.
Der Kunsthistoriker denkt angesichts dieser Vorgehensweise, die der eines Malers von Historienbildern ähnelt, und der Motive an das wohl berühmteste Floßbild: Théodore Géricaults „Das Floß der Medusa“. Es zeigt Schiffbrüchige auf einem selbstgefertigten Floß vor der Westküste Afrikas. Géricault griff in dem 1819 fertig gestellten Werk einen Vorfall auf, der drei Jahre zuvor die französische Öffentlichkeit schockiert hatte. Eine Fregatte namens „Medusa“ mit 400 Soldaten, Wissenschaftlern, Verwaltungsbeamten und deren Familienangehörigen an Bord war aufgrund des inkompetenten Kapitäns rund 100 Kilometer vor der Küste Mauretaniens auf eine Sandbank aufgelaufen. Da die Rettungsboote nur 250 Menschen aufnehmen konnten, wurde eilends aus Masten und Rahen der Medusa ein Floß für die restlichen 150 Schiffbrüchigen gezimmert. Von den Rettungsbooten sollte es in Schlepptau genommen werden – doch schon nach wenigen Seemeilen wurden die Seile gekappt. Schon nach einem Tag waren Trinkwasser und Nahrung ausgegangen und unter den Kolonialisten brach Kannibalismus aus. Als das Floß nach knapp zwei Wochen zufällig von einem Schiff aufgespürt wurde, war nur noch ein Zehntel der ursprünglich Ausgesetzten am Leben. Géricaults Werk, das das rettende Schiff klein am Horizont zeigt, berichtet nicht nur von diesem schrecklichen Vorfall, es weist zugleich über ihn hinaus – es ist zum Sinnbild geworden für trügerische Hoffnung und sinnloses Leiden sowie für die rücksichtslose Barbarei, in die selbst Menschen aus einem hoch zivilisierten Land zurückfallen, wenn es um ihr schieres Überleben geht.
Auch Martin Schneider will – selbst wenn er Eindrücke aufgreift, die unser Gedächtnis vor nicht allzu langer Zeit über die Medien erreichten – kein aktuelles politisches Statement abgeben. Auch er strebt danach, Tatsachen aufzugreifen, um den ihnen zugrunde liegenden Kräften und Wirkweisen nachzuspüren und somit die ungeschriebenen Gesetze des Lebens weiter zu erforschen und ans Licht zu bringen. Als ich Martin Schneider in seinem Atelier über die Schulter blicken konnte – um den Titel der Schau aufzugreifen -, sagte er, ihm gehe es völlig unabhängig von Ort und Zeit um einen Prototyp von Mensch, der sich wortwörtlich über Wasser halten wolle. Die Reliefs seien auch psychologische Studien darüber, wie der Einzelne mit einer Existenz bedrohenden Situation umgehe. Eben dabei schaut der Künstler dem Menschen über die Schulter.
Bei dieser Konzentration auf einen wesentlichen Aspekt menschlichen Seins hilft auch das Material. Es ist der Werkstoff MDF, der vorrangig in der Möbelindustrie verwendet wird. Schneider verwendet ihn, weil MDF arm an Charakter ist und in dieser Armut eine gewisse Parallele zum Ton hat. Holz wäre dem Künstler „einfach zu schön“ gewesen, wie er sagt. Die Maserung würde den Blick ablenken und gegebenenfalls die Bemalung stören. So gelingt es ihm auch formal, eine große Räumlichkeit und Dichte zu erzielen.
Weitere Unterstützung bei der Suche nach dem Prototyp geben die Vorlagen. Sie sind bereits mediengerecht vorsortiert, ehe sie den Künstler und auch die anderen Internetkonsumenten erreichen. Darunter sind natürlich auch Pressefotos. Jedes Pressefoto sollte im Idealfalle einen signifikanten Aspekt veranschaulichen, der auf den ersten Blick beeindruckt, den besonderen Charakter einer Situation einprägsam zum Ausdruck bringt und damit auch über diese hinausweist auf allgemein Menschliches. Die Verarbeitung dieser Bilder in Reliefs unterstreicht die im wahrsten Sinne des Wortes herausragenden Merkmale nochmals und stellt somit ein weiteres Moment dar, mit dem die Konzentration auf das Wesentliche gesteigert wird.
Martin Schneider zeigt Menschen, die plötzlich unvorbereitet um ihr Überleben kämpfen müssen und dabei auf sich selbst und ihre „Basics“, wie man im Englischen sagt, ihre grundlegenden Fähigkeiten, auf die sie sich besinnen müssen, zurückgeworfen sind. „Und das Floß ist auch eine Art Basis“, merkte Martin Schneider dazu noch an.
Da ist die Frau, die sich bemüht, selbst in Klapperlatschen das Gleichgewicht auf den schwankenden, zusammen gezimmerten Holzteilen nicht zu verlieren. Da ist der Mann, der in touristisch anmutender Freizeitkleidung das Gestell unter seinen Füßen durch die Wellen steuert. Da ist die Frau, die auf einem Styroporgerüst hockt, das die Fluten mit sich reißen.
Da ist ein weiterer Mann, der sich verzweifelt an einen Baumstamm klammert, der in der Strömung treibt. Und wir sehen ein unbemanntes Floß, das aus zusammengebundenen Autoreifen, einer Leiter und mehreren aneinander gebundenen Stöcken besteht. Der Betrachter kann sich selbst nun in die Lage der Flutopfer versetzen. Auf der Fotovorlage saßen darauf zwei Männer. Sie sind in einem separaten Relief dargestellt. Es ist die einzige Darstellung dieser Serie, die mehr als eine Person in Not zeigt – ein großer Unterschied zu Géricaults Gemälde, das keinen Helden hat. Schneider hingegen zeigt nur Helden und Heldinnen – Helden und Heldinnen, die für sich selbst kämpfen. Letztendlich läuft das aber auf das Gleiche hinaus, denn in der Barbarei kämpft auch jeder nur für sich selbst.
Die moderne Form der Barbarei mag aber gerade in dieser Isolation, dieser Vereinzelung liegen. Als ich Martin Schneider – um nochmals den Titel der Ausstellung zu erwähnen – im Atelier über die Schulter blicken konnte, erwähnte er Edward Munchs Gemälde „Der Schrei“. Auf der Brücke stehe darin der moderne isolierte Mensch, meinte Schneider. Bei Martin Schneider wird die Brücke nun zum Floß. Und die Notlage, über die es hinweghelfen soll, teils zum Dauerzustand, zum Dauerprovisorium.
Als Kontrapunkt wie als Ergänzung sehen Sie in der Schau noch einige Darstellungen von kleinen Bunkern. Solche Vorrichtungen dienen in den USA als Zufluchtsort bei Tornados. Allerdings mögen sich die Insassen darin auch auf sich selbst zurückgeworfen fühlen. Und wer weiß, mit welchen Widrigkeiten sie zurecht kommen müssen, wenn der Tornado über sie hinweggefegt ist?